Wie beschreibst du einen Wert?
Werte spiegeln Handlungsmaximen – in ihnen sehnen wir uns danach Vorstellungen zu verwirklichen. Liebe, Freiheit oder Respekt sind typische Werte, welche schon seit einigen Jahrhunderten überdauern. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass es Werte an sich nicht gibt, sondern sie lediglich in einem Zusammenhang unserer Vorstellungen wirken. Dieser Zusammenhang ist nicht immer gut, schön oder richtig. So manche Liebe kann erdrücken. Unter dem Gebot der Freiheit fielen bereits zahlreiche Köpfe in Körbe, nicht nur nach der Französischen Revolution. Und noch heute wird im Namen einer zweifelhaft ausgelegten Ehre vertrieben, misshandelt oder gar getötet. Mit den Werten sollten wir weder leichtfertig umgehen, noch sollten wir sie unreflektiert zu unseren eigenen Handlungsmaximen erklären - auch dann nicht, wenn sie vordergründig bequem wie attraktiv wirken.
Was meinst du damit, wenn du sagst, Werte an sich gebe es nicht?
Ich beziehe mich da auf eine Aussage von Richard Senett, einer der führenden Soziologen der Gegenwart. Werte sind bekanntlich ein Zentralbegriff dieser Disziplin. Die Soziologie studiert insbesondere wie Werte in Gemeinschaften einsickern, sich dort verfestigen, aber auch wieder verschwinden. Werte unterliegen einer sozialen wie zeitlichen Dynamik. Senett sagt, er habe nie verstanden, was Werte an sich eigentlich seien und verlagert die Diskussion auf das Feld der Anschauungen.
Als Biologe leuchtete mir diese Aussage sofort ein: besser Anschauungen zu betrachten als Werte zu thematisieren. Das nimmt nämlich Energie des richtig oder falsch aus dem Diskurs und lässt uns nüchterner auf die eigene Vorstellungen schauen, die wir hoffentlich gemeinsam zu verwirklichen suchen. Wir betreten zunächst den Raum der Ideen, bevor wir zu den attributierenden Werten vorstoßen. Der Aufruf zur Anschauung von Sennett zielte jedoch auch tiefgründiger. Er hatte noch bei Hannah Arendt studiert und für diese „Tochter Hannovers“ war die Anschauung der Weg allen Erkennens.
Mit Werten selbst lässt sich nichts an sich erkennen, jedoch gut messen und ästhetisch urteilen.
Spielen Ideen also für Dich eine zentrale Rolle bei Werten?
Ja, so denke ich. Kein Mensch ist ohne Ideen. Ideen gelten spätestens seit Freud als das Medium der menschlichen Psyche. Daher kann heute kein Unternehmen mehr darauf verzichten, seine Ideen seinen Kund*innen nicht mitzuteilen. Für mich sind Ideen aber im Zusammenhang der allgegenwärtigen Kommunikation noch bedeutender. Ideen bilden das Medium menschlicher Kommunikation. So wie Geld als Medium der Wirtschaft, das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage orchestriert, so bilden Ideen das Medium zwischenmenschlicher Kommunikation zum Verhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Das einzige Handicap darin: verfestigen sich Ideen in Form absolut gesetzter Werte oder Ideale, geraten also ideologisch, wirken die Werte wiederum tyrannisch auf uns zurück. Niemand möchte unter einer solchen Tyrannei von Wertideologien leben oder wie Konfuzius sagte: Unter einer noch so wohlgemeinten Wertemoral (eines Einzelnen) lässt sich nicht gut leben. Viele asiatische Kulturen stellen bekanntlich nicht das Individuum, sondern eine Gemeinschaft in das Zentrum ihrer Werte-Betrachtung. Für uns vollkommen ungewöhnlich zielt diese Art des Denkens auf die Auflösung des Subjekts selbst – im Zen-Buddhismus formuliert: alles, das nichts ist.
Ich gerate jedoch ideenflüchtig. Zurück zu deiner Frage: ein Wert ist kein einsames Zentralgestirn. Eine leitende Frage lautet: Was erzeugt der Wert in mir – wozu soll er mir in (meinen) Beziehungen dienen? Der Mensch besitzt ein suchendes, ein begehrendes sowie ein genießendes Wesen – Werte sind davon nicht ausgeschlossen. Aus einem Dreiklang des warum, wofür und wozu lassen sich recht verlässlich konkrete Werte-Inhalte zuschreiben, die einen Werte-Begriff in der öffentlichen Darstellung mit Resilienz versehen, denn wir dürfen erwarten: nicht alle Werte werden von jedem gemocht.
Ein Werte-Statement bedeutet mithin auch, dass wir nicht jedem gefallen wollen.